Xavier

Als „ein Abenteuer“ bezeichnet der mittelalte Mann mir gegenüber unsere aktuelle Situation. Ich hoffe, das ich mit knapp fünfzig das Ausharren in einem ICE nicht als „Abenteuer“ betrachten werde, sonst erschießt mich bitte gleich.

Sturmtief Xavier ist durch Deutschland gezogen, gemeinsam mit mir und abertausenden anderen Reisenden auch. Natur und Zivilisation trafen aufeinander, und die Natur hat ausnahmsweise mal gewonnen. Seit Mittag steht Norddeutschland still, und da ich und mein Transportmittel der Wahl ebenfalls in diesem Gefilde unterwegs waren, stehen wir eben auch still.

Es beginnt damit, dass wir auf offener Strecke anhalten, ungefähr zwanzig Minuten vor Hannover. Zu diesem Zeitpunkt bin ich noch optimistisch, denn außer etwas Regen und Wind, beides noch in erträglichem Rahmen, hatte ich zuvor in Berlin von den Deutschland terrorisierenden Wetterbedingungen nichts mitbekommen, und auch den Rest des Tages über begegne ich lediglich gelegentlichen Schauern und Windböen, was dem Ganzen für mich einen leicht surrealen Anstrich gibt.

Recht schnell danach bleibt dann aber auch der Strom weg, was schon mal ein deutlich schlechteres Zeichen ist. Es folgen entschuldigende Durchsagen, ein kurzes Zurücksetzten zum Zwecke des darauffolgenden Einfahrens in einen nahegelegenen Dorfbahnhof, wo die am Bahnsteig anliegenden Türen geöffnet werden, sodass wir immerhin den Zug verlassen können. Mittlerweile sind zwei Stunden seit dem Anhalten um vierzehn Uhr vergangen.

Durch meinen Sitzplatz an einem Vierertisch bedingt habe ich drei, sagen wir mal in näherem Kontakt zu mir und einander stehende Leidensgenossen. Diese sind erwähnter 50-Jähriger, seine ziemlich gleichaltrige Frau, beide auf dem Weg zum Starlight Express in Bochum, sowie ein ca. 70-Jähriger, nach eigener Aussage „schwerbehindert“, wobei sich dies bei ihm allem Anschein nach, von einem nach innen gewandtem Schielen einmal abgesehen, auf eine rein kognitive Ebene beschränkt. Das ist zwar nicht direkt eine Gemeinschaft, deren Gesellschaft ich mir herbeiwünsche oder an der ich mich normalerweise, und zugegebenermaßen auch aktuell, übermäßig erfreue, aber die gemeinsam verbrachte Zeit schweißt einen dann zwangsläufig eben doch etwas zusammen. Verdammt, ich klinge schon wieder abwertend, oder?

Per Lautsprecher erfahren wir in der Zwischenzeit, dass es frühestens um acht Uhr abends weitergehen wird, aber die im Laufe der Zeit zusammengetragenen Meldungen aus der Außenwelt lassen auch dies als zunehmend unwahrscheinlich erscheinen. Egal, erst mal ist Warten angesagt, und dieses wird von mir mit Musik, unbefriedigender Lektüre, Schlafen und der Assistenz bei dem Zustandekommen eines Telefonats vom rentner-, aber leider nicht ganz schwerbehindertengerechtem Klapphandy des von mir intern und spontan auf „einfacher Arnold“ getauften Sitznachbarn zwecks Vermeidung übermäßiger Langeweile gefüllt. Gegen acht Uhr, als ich auch beginne, die ersten Zeilen dieses Berichtes zu verfassen, ist dann aber erkenntlich geworden, dass sich dieser bereits jetzt von den letzten Stromreserven zehrende Hochgeschwindigkeitszug heute nicht mehr von diesem lediglich aus einem einfachen Bahnsteig bestehendem Bahnhof fortbewegen wird. Dafür müssen wir Passagiere uns aber auf einen baldigen, bereits durch das Eintreffen von Deutschem Roten Kreuz und der örtliche Feuerwehr angekündigten Ortswechsel einstellen, denn der Strommangel bedingt auch eine Nicht-Nutzbarkeit von sanitären Anlagen und Heizungen, weshalb dieser metallener Wurm als Nachtlager nicht in Frage kommt.

So werden wir dann kurze Zeit später mit Transportern evakuiert, Ziel ist ein nahegelegenes Kulturzentrum, also im Grunde ein großer Raum, üblicherweise angedacht eben für kulturelle und wohl auch weniger kulturelle Zusammenkünfte der Dorfgemeinschaft, nun aber auf die Schnelle in ein wohltemperiertes und mit funktionierenden Toiletten ausgestattetes Auffanglager für uns Gestrandete umfunktioniert. Sehr schnell stehen dort auch ausreichende Mengen an Wasser, Kaffee und Tee bereit, und vermutlich eine Art Plünderung des nebenan gelegenen Netto’s später dann auch primär bockwurstige und brotige feste Nahrung sowie ein Haufen Softdrinks. An dieser Stelle einfach mal ein Shoutout an die Einsatzkräfte, welche die Lage wirklich gut gehandhabt haben.

Wieder eine Weile später lauschen wir dann gesättigt und gestärkt, in meinem Fall nach einem kurzen privaten Abstecher zu Netto auch mit edlem 40-Cent-Bier ausgerüstet der ersehnten Ansage, wie es denn jetzt weitergeht: Zunächst einmal werden Taxis und Hotels organisiert und zur Verfügung gestellt, allerdings muss für die Kosten selbst aufgekommen werden, da die Bahn sich mit der Begründung „höhere Gewalt“ aus der Verantwortung zieht. Was zwar ein Bitchmove, rein rechtlich gesehen aber legitim ist, und heute, einen Tag später, habe ich im Radio auch schon das schöne Wörtchen „Kulanz“ gehört. Hach ja, da kommen Erinnerungen an meine Zeit bei o2 hoch.

Mich selber betrifft dies alles übrigens nicht, da mein Vater sich bereits auf den Weg gemacht hat, um mich per Auto abzuholen, weshalb ich recht entspannt meinen Alkoholpegel anhebe, die fahrgemeinschaftsbildenden Maßnahmen rund um mich herum beobachte und noch etwas Konversation mit „Arnold“ betreibe, der nicht an und für sich dumm, sondern lediglich, nun, etwas einfach gestrickt ist und ebenfalls bald abgeholt wird, von seinem Bruder. Um elf Uhr ist mein Dad dann eingetroffen, wir packen noch ein Großelternpaar samt Enkelin auf den Rücksitz, ich verabschiede mich von „Arnold“ (das mittelalte Ehepaar hat sich bereits in ein Hotel verzogen) und wir machen uns auf die zweistündige Hin- bzw. Rückfahrt nach Oldenburg. Wenn gerade keine Gespräche den Autoinnenraum erfüllen denke ich darüber nach, dass so ein Chaos für unser wettertechnisch diesbezüglich sehr gesegnetes Deutschland zwar eine krasse Sache ist, im Vergleich zu vielen anderen Weltregionen und dortigen, oft erschreckend regelmäßigen Naturkatastrophen aber doch eine süße Lappalie ist.

Schließlich kommen wir um kurz nach ein Uhr nachts an, werfen unsere Mitfahrer am Hauptbahnhof raus, von wo sie baldigst von anderen Familienmitgliedern aufgegriffen werden und fahren selber nach Hause, wo ich fast neun Stunden später als ursprünglich veranschlagt ankomme. Dankeschön, Xavier.

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